Zweites Buch – 14. Kapitel – Radikale Aufklärung Eine Welt der offenen Quellen von A.E. Freier

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Identitäten

Mit dem Aufkommen der digitalen Gesellschaft tritt ein Begriff in den Vordergrund, den man eher in den vormodernen Gesellschaften der Ähnlichkeiten vermuten würde. Die Identität. Dieser hat sich zu einem Kampfbegriff entwickelt. Dies verwundert umso mehr, da es sich dabei um einen irrationalen und unwissenschaftlichen Ausdruck handelt.

Zu allen Zeiten fragte sich die Menschheit, wie man Dinge zusammenfasst. Da es ja offensichtlich so viele einzelne Objekte gab, dass es unmöglich war, jedem Ding einen eigenen Namen zu geben. Wie sollte man die also in Gruppen zusammenfassen? Der erste und logischste Schritt ist das Erkennen von Ähnlichkeiten. Dinge, die sich ähnlich waren, gehörten also mehr oder weniger zusammen. Genaue Grenzen der Gruppen von Dingen, wie wir sie seit der Klassik und der Einteilung in Kategorien gewohnt sind, können bei einer Ordnung der Dinge nach Ähnlichkeiten nicht festgelegt werden.

Michel Foucault beschreibt in seinem Buch “Die Ordnung der Dinge”(9) genau, wie wichtig für eine Gesellschaft ebendiese Ordnung ist.

Geht man davon aus, wie im Mittelalter oder der Renaissance, dass Dinge sich nach ihren Ähnlichkeiten ordnen, ist wissenschaftliches oder logisches Denken über die Zusammenhänge praktisch unmöglich. So war es bis zur genauen Kategorisierung der Tiere und Pflanzen in den Naturwissenschaften üblich, Heilpflanzen danach zu beurteilen, wie ähnlich sie dem entsprechenden Organ waren, was sie heilen sollten (viele Pflanzennamen bezeugen das bis heute). Magische Symbole und Bannsprüche sind in einer Welt, die sich nach Ähnlichkeiten ordnet, durchaus legitim und sinnvoll. Symbole, z.B. in der Heraldik, werden nicht als Repräsentationen der Dinge gesehen, sondern übertrugen ihre Eigenschaften direkt und unmittelbar auf den Träger.

Mit der Aufklärung und dem Aufkommen der modernen Wissenschaften wurde es nötig, die Dinge in klare Kategorien zu ordnen. Die Naturwissenschaft wurde zur Biologie und setzte die Lebewesen in eine klare Ordnung mit Gattungen und Arten. Diese Kategorien waren empirisch zu bestimmen und grenzten die Ordnungen klar und beweisbar voneinander ab. Die Ähnlichkeiten wandelten sich in Repräsentationen. Die Worte und Symbole waren nicht mehr identisch mit ihrem Subjekt, sondern zeigten lediglich an, um welches Ding es sich handelt. Magie wich der empirischen Wissenschaft.

Ein weiterer wichtiger Teil unseres heutigen Denkens ist die Historizität. Ordnungen und Kategorien sind nicht starr und ewig, sondern ändern sich mit der Zeit. Sie haben also eine Geschichte. Seit Anfang des 19. Jh. ist historisches Denken wissenschaftliches Denken.

Diese Art des Begreifens der Welt scheint heute die einzige rationale und wissenschaftliche Art des Begreifens. Umso mehr verwundert die Renaissance der Ähnlichkeiten in Form der Identitäten.

Bis zum Aufkommen der Digitalisierung und damit des digitalen Raumes, spielte die Identität in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle. Nicht ganz ohne Grund hatte sie vorwiegend in reaktionären, als “Neue Rechte” bekannten Kreisen die Funktion, irrationale und als unwissenschaftlich erkannte Konzepte wie Rasse und Nation zu “retten” und als positive oder negative Identität zurück in den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen.

Wie kommt es also, dass mit Beginn des 21. Jahrhunderts die Identität mit ihrer “magischen” Verbindung zur Ähnlichkeit einen dermaßen hohen Stellenwert einnimmt? In der zeitgenössischen Diskussion wird der Begriff als anthropologischer Begriff verwendet. Es geht also immer um die Identität des Menschen oder die Identität von Menschengruppen.

Menschen bewegen sich heute neben dem analogen Raum der empirischen Kategorien ebenfalls im virtuellen Raum. Im virtuellen Raum haben die empirischen Kategorien, zumindest für den Menschen keine Bedeutung mehr. Im analogen Raum wissenschaftlich oder biologisch determinierte Eigenschaften oder Zugehörigkeiten, können im virtuellen Raum beliebig gewechselt werden und als verschiedene Identitäten gleichzeitig existieren. Das ist eine radikale Änderung in der Ordnung der Dinge und damit im Denken der Menschheit.

Da virtueller und analoger Raum gleichzeitig existieren, entsteht eine enorme Inkohärenz zwischen den naiven, virtuellen Identitäten und den wissenschaftlich determinierten Kategorien des analogen Raumes.

Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die virtuelle Identität, genau wie die ihr verwandte mittelalterliche Ähnlichkeit, einen evolutionären Prozess durchlaufen muss, hin zu einer rationalen, wissenschaftlichen Kategorisierung des virtuellen Raumes.

Eine außerordentlich große Aufgabe für die Menschheit im digitalen Zeitalter.

>(9) Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Les mots et les choses, 1966). Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1. Auflage 1974. ISBN 3-518-27696-4